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2024 AUTUMN

Minsuk Cho und das Aufschichten von Identitäten

Die von Minsuk Cho, dem Leiter des Architekturbüros Mass Studies entworfenen Projekte bestechen durch außergewöhnliche Formen und gewagte Ansätze. Sie sind eine Auseinandersetzung mit der Komplexität der modernen Gesellschaft, eine unmittelbare Annahme und Wiedergabe von Heterogenität.

Beim Entwerfen des Serpentine Pavillons berücksichtigte Cho mehr die Besucher, die ihn betrachten werden, als den Pavillon selbst. Um ein umfassendes Erlebnis zu bieten, entschied er sich gegen eine geschlossene Form. Vielmehr ging es ihm darum, durch Leere die Bewegung zu fördern.
Mit freundlicher Genehmigung der Serpentine Galleries, Foto: Iwan Baan

Die Serpentine Galleries in London geben jedes Jahr weltweit renommierten Architekten die Gelegenheit, einen temporären Sommerpavillon auf dem Gelände des Kunstmuseums zu errichten und so neueste Trends der Architektur-Branche zu präsentieren. Teilnehmende waren Zaha Hadid, die 2000 den Startschuss gegeben hat, Toyo Ito, Rem Koolhaas, Frank Gehry, die Architektengruppe SANAA, Peter Zumthor, Diébédo Francis Kéré u. a.

Die Pavillons haben sich mittlerweile als ein Event etabliert, das die Aufmerksamkeit der internationalen Architektur-Branche auf sich zieht. Vorausgesetzt wird, dass die Architekten bislang noch kein Gebäude in England fertiggestellt haben. Die Pavillons gelten demnach als ihr Debütwerk in England.

Am 7. Juni wurde in den royalen Kensington Gardens in London bekannt gegeben, dass dieses Jahr zum ersten Mal überhaupt ein Koreaner den Pavillon entwerfen wird. Es handelt sich um Minsuk Cho und seine Firma Mass Studies, die hauptsächlich in Seoul aktiv sind.

Minsuk Cho ist ein Architekt, der die Stadt als lebendigen Organismus betrachtet und den urbanen Kontext überdenkt. Für ihn besteht die Rolle der Architektur darin, ein Gleichgewicht zu finden und zugleich den natürlichen Fluss im Raum zu bewahren. 

Die leere Mitte

Minsuk Cho gab seinem Pavillon den Namen Archipelagic Void. Im Zentrum des Gebäudes steht ein leerer runder Raum, der von fünf Baukörpern mit unterschiedlichen Funktionen – Galerie, Bibliothek, Auditorium, Teehaus und Spielturm – eingefasst ist. Es ist dieser nicht definierte „void“, von Cho als „Madang“ (Hof) bezeichnet, das ein Archipel von Inseln mit klar definierten Funktionen und eindeutigen Formen miteinander verbindet und in Beziehungen zueinander setzt. 

In der traditionellen Architektur Koreas besteht ein Wohnhaus aus mehreren Teilgebäuden, die rund um den Madang stehen. Dieser Hof erfüllt die verschiedensten Zwecke, vom Spielplatz, Arbeitsraum bis hin zu einem Ort für das Abhalten von Ritualen. Schon der chinesische Philosoph Laotse betont in seinem Buch Tao Te Ching die Bedeutung der Leere, indem er u. a. schreibt: Erst das Loch in der Mitte eines Rades bewirkt das Bewegen eines Wagens.

Cho schafft durch die Anordnung eines leeren Madang im Zentrum des Pavillons eine Neuinterpretation der kulturellen Tradition Koreas bzw. Asiens. Gleichzeitig ist Chos Werk auch eine Art Reaktion auf die Geschichte der Serpentine Pavillons. Die 22 bisherigen Werke bestanden nämlich zumeist aus einer Einzelstruktur mit Dach. Chos Herangehensweise ist neu.

Die Große Halle des Tempels Wonnam des Won-Buddhismus ist durch eine kreisförmige Öffnung mit einem Durchmesser von 7,4 Metern gekennzeichnet, die in der Mitte einer 9 Meter hohen Stahlplatte geschnitten wurde. Es ist ein Ort der Stille, in dem ein sich ständig wechselndes Licht- und Schattenspiel für eine gewisse Dynamik sorgt.
© Kyungsub Shin

Akkumulierung der Identitäten

Minsuk Cho zieht das Mehrfache dem Einfachem vor, und möchte althergebrachte Narrative durch neue Geschichten bereichern. Er wurde 1966 in Seoul geboren. Es war eine Zeit, in der sich die Stadt auf dramatische Weise zu verändern begann. Damals gab es im heute so hochentwickelten Viertel Gangnam noch mehr Felder als Gebäude. Sein Vater, ebenfalls Architekt, entwarf das damals größte Kirchengebäude Koreas auf der im Fluss Han-gang gelegenen Insel Yeouido. Der Han-gang, dessen Ufer landschaftliche Idylle mit tristen Neubauten vereint; auf Yeouido ein riesiger Asphaltplatz; eine Brücke, die das alles miteinander verbindet: An diesem Durcheinander von nicht miteinander harmonisierenden Elementen habe sich sein erstes architektonisches Empfinden gebildet, erinnert sich Cho. 

Der italienische Dichter und Schriftsteller Filippo Marinetti setzte Brücken mit Riesen in dynamischer Bewegung gleich. Für ihn waren gewaltige Infrastrukturen ein Geschenk der Technologie zur schnelleren Herbeiführung der Zukunft. Cho aber sah an den Betonbögen auf den Reihen von Brückenpfeilern in Seoul den Arc de Triomphe in Paris. Seinem Empfinden nach war die Gegenwart Koreas mit der Vergangenheit des Westens verflochten, und Denkmäler und Infrastrukturen existierten ohne Pufferzone nebeneinander.

Das Space K Seoul Museum of Art entstand im Magok Industrial Complex, der aus angereihten rechteckigen Gebäuden besteht. Der Flachbau in freier Form unterbricht den gleichförmigen Rhythmus der umliegenden Bauten und sucht gleichzeitig Harmonie zu schaffen. 
© Kyungsub Shin 

Minsuk Cho absolvierte die Yonsei Universität, studierte danach an der Graduate School of Architecture der Columbia University und begann in New York zu arbeiten. Mit diesem Werdegang gehörte er zu einer neuen Generation koreanischer Architekten. Vor ihm hatten zwar auch andere im Ausland studiert, aber sie waren nur seltene Ausnahmen. Nach den Olympischen Spielen 1988 in Seoul lockerten sich in Korea die Vorschriften für Auslandsreisen und Studienaufenthalte, und viele Studenten zog es in die Vereinigten Staaten oder nach Europa. Das brachte einen Wendepunkt in der Architekturbranche Koreas. Es wurde möglich, ohne Zeitverzögerung von aktuellen Trends zu lernen und zugleich Distanz zum Mutterland herzustellen. Bis in die frühen 1990er Jahre waren koreanische Architekten in ihren Arbeiten nicht frei von dem Auftrag, Alleinstellungsmerkmale des Koreanischen zu visualisieren. Cho aber stellte wiederholend fest, dass es die Entfernung und der Zeitunterschied zwischen New York und Seoul möglich mache, Identitäten wie das Traditionelle und Moderne, das Westliche und Asiatische aufeinanderzuschichten.“

Choru befindet sich im Kreis Boseong in der Provinz Jeollanam-do und bietet Tee und Getränke aus schwarzem Essig. Der Architekt entschied sich für einen bescheidenen, unauffälligen Entwurf, um sicherzustellen, dass das Gebäude nicht von der Schönheit der umliegenden Landschaft ablenkt.
© Kim Yong-kwan

Das Songwon Art Center, das sich im Herzen des Bukchon-Viertels in Seoul befindet, steht auf natürliche Weise im Einklang mit der Topografie. Der Unterschied zwischen Abhang und Ebene des Geländes beträgt über drei Meter; das Grundstück an sich ist klein. Dennoch konnte durch Berücksichtigung dieser topografischen Beschränkungen beim Entwurf maximale Effizienz erreicht werden.
© Kyungsub Shin 

Inklusion des Heterogenen

Cho sammelte allerlei praktische Erfahrungen in dem von Rem Koolhaas geleiteten Architekturbüro OMA, das zur Jahrtausendwende die Rolle einer Denkfabrik der weltweiten Architekturbranche spielte. Danach arbeitete er in New York mit dem Architekten James Slade und kehrte schließlich 2003 nach Seoul zurück, um Mass Studies zu gründen.

Inmitten der zahlreichen Faktoren, die die Modernität Koreas zu Anfang des 21. Jhs. definieren – sprich Vergangenheit vs. Zukunft, Lokalität vs. Globalität, Utopie vs. Realität oder Individuum vs. Kollektiv – lautet die Strategie von Mass Studies: „Nicht eine einheitlich-integrierende Sichtweise aufweisen zu wollen, sondern sich der Vielschichtigkeit und Komplexität einer Situation zu stellen und Alternativen zu suchen.“

Es geht darum, die Identitäten nicht auf eine singuläre zu reduzieren und die Realität in ihrer ganzen Komplexität darzustellen. Diese in New York und Rotterdam entwickelte Idee von Cho scheint wie gemacht für Seoul zu sein. Schließlich vereint kaum eine andere Stadt so viele Gegensätze in sich wie die Hauptstadt Südkoreas.

Die 1962 fertiggestellte französische Botschaft in Korea wurde von Kim Chung-up (1922 –1988) entworfen, der zur ersten Generation der Architekten Koreas gehörte. Der Pavillon war aufgrund mehrerer Erweiterungen und Renovierungen schwer beschädigt, aber es wurden Anstrengungen unternommen, um ihn in seiner ursprünglichen Form wiederherzustellen. Das Gebäude erhielt wieder seine ursprüngliche, durch Pilotis gestützte Struktur des ersten Stockwerks sowie die Schwingungen des Daches.
© Kim Yong-kwan

Cho und die Architekten von Mass Studies vergleichen ihre Arbeit mit einem Go-Spiel, denn alle ihre Arbeiten hängen in irgendeiner Weise miteinander zusammen. Dieser Vergleich ließe sich leicht ausweiten. Wie soll nämlich auf Steine reagiert werden, die bereits auf dem Spielbrett verstreut liegen? Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, und je nach Konstellation kann der nächste Schritt stark variieren. Beim Projekt des Luxus-Offictels Boutique Monaco inmitten des Reichenviertels Gangnam wird an Öffentlichkeit gedacht, während in einem Seouler New Town-Viertel die monoton-gitterförmige Anordnung von Forschungskomplexen und Wohnhochhäusern mittels eines völlig andersförmigen Kunstmuseums durchbrochen wird. Ein buddhistisches Religionsgebäude im alten Stadtzentrum von Seoul weist wiederum eine monumentähnliche Form auf, löst aber gleichzeitig durch die Verbindung von eigentlich unzusammenhängenden Gassen auf subtile Weise Bewegungen aus. Bei Bauwerken wie etwa auf der Insel Jeju-do oder in Boseong in Jeollanam-do, wo die Natur vorherrschend ist, wird hingegen auf eine simplere bzw. bescheidenere Variante zurückgegriffen. Manchmal scheint es Cho und sein Architektenteam mehr zu großen Projekten im Stile eines Stadtplaners wie Robert Moses hinzuziehen, dann neigen sie wieder zur Entwicklung von Alternativen zum Erhalt kleiner Gassen wie es die Sozialaktivistin Jane Jacobs tut.

Diese Vielseitigkeit lässt sich auch am Projekt Serpentine Pavillon beobachten. Cho zielte darauf ab, die vorherigen Werke der Star-Architekten in Erinnerung zu rufen, aber auch das Potenzial, das der Ort als Garten besitzt, auszuschöpfen. Anstatt mittels einer spezifischen Form die singuläre Identität zu betonen, will er das Heterogene als solches aufnehmen und wiedergeben. Der sternförmige Pavillon entstand nach langer Arbeit und ist der bislang jüngste Stein, den Minsuk Cho und sein Team auf das Go-Spielbrett gelegt haben. Sie konfrontieren die Welt mit der Frage:

„Ist es nicht interessanter, wenn Inkongruentes in Mehrzahl zusammen da sind als nur ein Einziges allein?“ 

Südwestansicht vom Hauptsitz des Internetkonglomerats Kakao Space.1. Das Gebäude befindet sich auf einer hügeligen Gegend auf der Insel Jeju-do und steht im Einklang mit der kreativen und horizontalen Unternehmenskultur. Durch die Kombination und den variierten Einsatz von fünf freitragenden Modulen mit einer Höhe von jeweils 8,4 × 8,4 Metern schuf der Architekt einen Raum, der sowohl vertikal als auch horizontal skalierbar ist. 
© Kyungsub Shin

Park Jung-hyun   Architekturkritiker
Fotos Lee Min-hee

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